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Rezension | Sven Urban – Die Sprache der Zeit

[Rezensionsexemplar] Oskar ist Anwalt, erfolgreich, karrierefixiert und endlich, endlich geschieden! Die Papiere sind unterschrieben, die lästige Familie kein Hindernis mehr – dem nächsten Karriereschritt steht somit nichts weiter im Wege. Oder doch? Oskar hat die Rechnung ohne den sonderbaren, schlaksigen Typen namens Hermes gemacht, der die Welt des ambitionierten Juristen nur einen Tag später gehörig auf den Kopf stellt. Denn im Handumdrehen findet er sich in einer seltsamen Bibliothek voller Gnome wieder, die wie besessen in die Tasten ihrer Schreibmaschinen hauen und jeden Störenfried mit vorwurfsvollen Blicken strafen. Der rothaarige, zylindertragende Hermes eröffnet Oskar, dass hier „Zeit“ geschrieben wird und nimmt ihn sogleich mit auf eine turbulente Reise in die Vergangenheit…

Urbane Fantasy vom Feinsten
Anders als in vielen anderen Fantasy-Büchern startet die Geschichte an einem äußerst gewöhnlichen Ort. Nämlich zwischen den Hochhäusern der Frankfurter Bürotürme. Gemeinsam mit dem unsympathischen Oskar verlässt der Leser allerdings recht schnell die echte Welt und findet sich in der grotesk-riesigen Bibliothek an Hermes Seite wieder. Von dort ausgehend unternehmen Oskar und Hermes verschiedene Reisen in unterschiedlichste Zeiten und Gefilde. Dreh- und Angelpunkt ist immer die Bibliothek, die kurzen Abstecher führen allerdings quer durch die Zeit.  Bevölkert werden die „Szenen“ dabei von verschiedenen Wesen und Gestalten, die zu Oskars Verwunderung eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen und ihn lehren, Dinge und Geschehnisse mit anderen Augen zu sehen.

Oskar ist als Protagonist sicherlich nicht die sympathischste Wahl, sondern übernimmt hier eher die Rolle eines modernen Ebenezer Scrooge. An vielen Stellen möchte man ihm lieber eine Ohrfeige verpassen, als mitfühlend zur Seite zu stehen. Den Part des Fremdenführers und Erziehers übernimmt glücklicherweise Hermes, der trotz seiner seltsamen Erscheinung deutlich mehr auf der Sympathieskala punkten kann. Zusammen ergeben die beiden allerdings genau die richtige Mischung für die Geschichte und ergänzen sich erzähltechnisch perfekt. Hinzu kommen Gegenspieler, kleine und große Helfer, unheimliche Wesen und einige verrückte Erscheinungen, die jedem Kapitel das gewisse Etwas verleihen. Wer oder was Hermes und die anderen „Bewohner“ der Bibliothek und ihrer Bücher allerdings wirklich sind, gilt es selbst zu herauszufinden.

Der Walter Moers der Selfpublisher
Rein sprachlich ist der Roman von Sven Urban ebenfalls gelungen. Die Worte und Sätze fließen nur so dahin und geleiten langsam aber sicher durch die Geschichte. Der Stil ist an vielen Stellen sehr alltagssprachlich, dann wieder bildhaft und zaubert eine fantastische Welt aufs Papier, die man nur ungern wieder verlässt. Ein wenig erinnert die Art des Erzählens an den grotesken magischen Realismus von E.T.A. Hoffmann oder (für alle, die es moderner mögen) Walter Moers.

Sven Urbans Debütroman ist definitiv eines der besten Bücher des Jahres und wurde von mir aus diesem Grund auch für den Lovelybooks-Leserpreis 2018 nominiert. Es gibt selten Selfpublisher-Werke (und dazu auch noch als Erstlingswerk), die so ausgereift sind wie „Die Sprache der Zeit“. Der Roman ist sprachlich wie inhaltlich geprägt von einem enormen Ideenreichtum, der in dieser Ausprägung locker an die großen Autoren heranreichen kann. Die Figuren und Wesen sind so skurril und liebenswürdig, dass es schwer fällt, nicht mit vollem Elan mitzufiebern, zu bangen und zu hoffen. Dabei schafft es der Autor gekonnt, die reale Welt mit dem Fantastischen zu kombinieren und den Leser mit auf eine turbulente Reise durch die Zeit zu nehmen.

Wer ein urbanes Märchen* mit viel Sinn und Verstand sowie einer wichtigen Botschaft sucht, wird hier fündig.

*Den kleinen Wortwitz in Bezug auf den Namen des Autors konnte ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen.

FunFact zum Schluss:
Ebenezer Scrooge aus Dickens „A Christmas Carol“ ist der Griesgram der Literaturgeschichte schlechthin und dient oft als Vorbild für das schlechtgelaunte Ekel in Romanen und Filmen. Was viele nicht wissen: die Comicfigur Dagobert Duck aus Entenhausen heißt im amerikanischen Original eigentlich Scrooge McDuck und wird oft auch als „Uncle $crooge“ bezeichnet. In der deutschen Übersetzung ist dies leider verloren gegangen.

Literaturverweis:
Urban, Sven (2018): Die Sprache der Zeit. Selfpublisher

Buchdaten:
Einband: Taschenbuch
Seitenzahl: 340
Erscheinungsdatum: 21.08.2018
Sprache: Deutsch
Verlag: Books on Demand
ISBN: 978-3-7528-4129-9

Ich habe dieses Exemplar vom Autor Sven Urban als Rezensionsexemplar erhalten. Vielen Dank dafür!

Weiterführende Informationen:
Zur Homepage von Sven Urban: https://www.svenurban.de/

© geek’s Antiques by Lilli
lilli (at) geeksantiques.de
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