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Rezension | Françoise Frenkel – Nichts, um sein Haupt zu betten

[Rezensionsexemplar] Eine jüdische Buchhändlerin flieht 1939 aus Berlin über Frankreich in die Schweiz. Mit sich führt sie wenig Gepäck, viele Erinnerungen und die französische Literatur im Herzen. Ein Erfahrungsbericht, der lange verschollen war und nun erstmals in deutscher Übersetzung erscheint. Zu erwarten war ein bewegender Bericht, der einen authentischen Blick in die Vergangenheit offenbart. Und doch ist es mir selten so schwer gefallen, eine Rezension zu verfassen.

Von Berlin über Paris nach Nizza

Die polnische Jüdin Francoise Frenkel eröffnet nach Abschluss ihres Studiums und eines Praktikums in Paris 1921 die erste französische Buchhandlung in Berlin. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten kann sie die literaturaffine Berliner Gesellschaft für sich gewinnen und baut einen festen treuen, wenn auch kleinen Kundenstamm auf, der ihr während der ersten Unruhen des aufkeimenden Nationalsozialismus zur Seite steht. Doch 1939 muss sie getrieben von der Furcht vor einer Deportation fliehen – über Paris quer durch Frankreich bis nach Nizza.

Zugegeben: Mit dem Vorwort von Literatur-Nobelpreisträger Patrick Modiano und der kurzen Anekdote zur (Neu-)Entdeckung des Buches hat man fast den Eindruck, den Flohmarktschatz selbst aufgestöbert zu haben. Dementsprechend erwartungsfroh begegnet der Leser auch den ersten Seiten und Worten des Berichts von Françoise Frenkel, der in der Presse in den höchsten Tönen gelobt wurde. Leider führt gerade die hohe Erwartungshaltung schnell zu einer Ernüchterung, denn die Geschichte hätte sich gut und gerne auch auf 100 Seiten weniger erzählen lassen. Da das Thema – die Flucht und Vertreibung der Juden in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts – ein sehr heikles, aber nicht weniger wichtiges Thema ist, wagt man es kaum, das Werk zu kritisieren. Denn schließlich handelt es sich hier um die Lebensgeschichte einer geflüchteten Jüdin und über ein gelebtes Leben urteilt man nicht ohne weiteres. Es fällt also schwer, bei diesem Buch von „mögen“ oder „nicht mögen“ zu sprechen, man muss bei der Betrachtung definitiv den historischen Inhalt vom Rest der Erzählung trennen. Zeitgeschichtlich gesehen besitzt das Buch, so wie alle Dokumente einer bestimmten Epoche, eine hohe Relevanz. Flucht, Deportationen und Verhaftungen werden ebenso thematisiert wie der Schrecken, den der Nationalsozialismus in Europa verbreitete. Rein stilistisch hat es mir allerdings nicht wirklich gefallen.

Eine Buchhändlerin auf der Flucht
Wir begegnen einer hochgebildeten Frau, die belesen und für damalige Verhältnisse weit gereist ist, die studiert und sich eine eigene Existenz geschaffen hat. Alles Dinge, die im Interbellum in der Damenwelt eher selten anzutreffen waren. So ist es anzunehmen (auch wenn dies in der Erzählung nicht explizit erwähnt wird), dass Françoise Frenkel aus einer wohlhabenden und mehr oder weniger einflussreichen jüdischen Familie stammt. Wie sonst hätte sie als polnische Jüdin ein Studium in Frankreich und die Eröffnung einer Buchhandlug in Deutschland finanzieren können? Dementsprechend erachtet sie während ihrer Flucht, die erzähltechnisch mehr wie eine Reise denn ein erzwungenes Ereignis anmutet, einen gleichbleibend hohen Lebensstandard als selbstverständlich. Bis zum Schluss flüchtet sie sich auch geistig in die Welt der schönen Dinge und der Literatur, die zwar in der Erzählung eine nebensächliche Rolle spielt, im Hintergrund aber stets präsent ist.

„Die Buchhandlung“, sagten sie, „sie ist der einzige Ort, an dem unser Geist sich ausruhen kann. Hier finden wir Vergessen und Trost, hier atmen wir frei.“ 
– Françoise Frenkel „Nichts, um sein Haupt zu betten“, S.43 –

Das Buch liest sich eher wie ein Roman und nicht wie ein Erfahrungsbericht. Die Sprache ist leicht, teils humorvoll und vermittelt den Eindruck einer authentischen Erzählerstimme, was dem Inhalt und dem schwer vermittelbaren Thema gut tut. Allerdings verwundert der lockere Plauderton im Kontext der tatsächlichen äußeren Umstände doch ein wenig und auch die stete Anklang ihrer betont unpolitischen Haltung wirkt befremdlich. Zudem werden markante Begriffe – als Beispiel sei hier das Wort „frappant“ genannt – überdurchschnittlich häufig wiederholt. Das mag an der Übersetzung liegen, als Stilmittel gedacht oder einfach einem persönlichen Spleen geschuldet sein, mich hat es leider im Lesefluss massiv gestört.

Gegen das Vergessen
Es war schön, nach längerer Pause wieder etwas von einer nicht-zeitgenössischen Autorin zu lesen. Vor allem da der Zeitgeist vor 70 Jahren doch ein ganz anderer gewesen ist und der Zweite Weltkrieg für die zweite und dritte Nachkriegsgeneration unvorstellbar weit entfernt erscheint. Emotional und historisch ist die Geschichte von Françoise Frenkel bedeutend und sollte nicht erneut in Vergessenheit geraten. Rein literarisch bietet das Werk mir persönlich dennoch zu wenig Anreiz, um es weiterzuempfehlen oder erneut zu lesen. Wer sich fernab von reinen Geschichtsbüchern mit der Judenverfolgung und den Folgen des Nationalsozialismus beschäftigen möchte, dem würde ich nach wie vor eher zum „Tagebuch der Anne Frank“ oder Markus Zusaks Roman „Die Bücherdiebin“ raten.

Ich vergebe deshalb nur 3/5 Leseeulen


Literaturverweis (broschiertes Taschenbuch):

Frenkel, Françoise (2018): Nichts, um sein Haupt zu betten. München: btb

Buchdaten:
Einband: broschiertes Taschenbuch
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 12.02.2018
Sprache: Deutsch
Originaltitel: Rien où poser sa tête
Verlag: btb
ISBN: 978-3-442-71608-1

Ich habe dieses Exemplar von btb als Rezensionsexemplar erhalten. Vielen Dank dafür! Die Buchdaten sind der Verlagshomepage entnommen.

© geek’s Antiques by Lilli
lilli (at) geeksantiques.de
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2 Kommentare

  • Volker Frick

    Françoise Frenkel wurde 1889 in Piotrków, Polen geboren. Nach dem Literaturstudium in Paris eröffnete sie mit ihrem Mann 1921 die erste französische Buchhandlung in Berlin, "La Maison du Livre". 1939 verließ Frenkel, wenige Tage vor Kriegsbeginn, Berlin. Sie blieb neun Monate in Paris, von wo sie über Avignon weiter nach Nizza floh. 1942 versuchte sie ein erstes Mal, die schweizerische Grenze zu überqueren, wurde jedoch festgenommen und in Annecy inhaftiert. Nach ihrem Freispruch gelangte sie 1943 heimlich über die französisch-schweizerische Grenze nach Genf. Noch im selben Jahr begann sie mit der Niederschrift von Nichts, um sein Haupt zu betten, das 1945 erstmals im Schweizer Verlag Jeheber erschien. Françoise Frenkel starb 1975 in Nizza.

  • Lilli

    Herzlichen Dank für die zusätzlich Informationen! Haben Sie denn irgendwo eine Quelle entdeckt, wo man mehr über die Buchhandlung und ihre Geschichte erfahren kann? Ich konnte dazu leider bisher nicht viel finden.

    Viele Grüße
    Lilli

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